»ZERO. Sie wissen, was du tust« von Mark Elsberg

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Die Journalistin Cynthia Bonsant ist eine Frau vom alten Schlag. Smartphone, Glasses oder Crowd sind für sie Begriffe aus einem Paralleluniversum und die Internetaktivitäten ihrer pu­bertierenden Tochter Viola beäugt sie mehr als kritisch.
Als eine Aktivistengruppe namens Zero, die sich gegen Totalausspähung stark macht, in einer Aktion den amerikanischen Präsidenten bloßstellt, um aufzurütteln, wie leicht Überwachung möglich ist, schrillen auch beim Londoner Daily, für den Cynthia arbeitet, alle Glocken und man wittert die große Story. Cynthia soll die Geschichte um Zero recherchieren und darüber berichten. Währenddessen sieht man bei Freemee, dem Datensammel-Markführer, die Chan­ce, aufgrund der Suche nach Zero sich selbst ins beste Licht zu rücken und mittels einer insze­nierten Jagd auf Zero neue Nutzer zu gewinnen. Cynthia wird zur unfreiwilligen Jägerin auf die Köpfe von Zero und gerät zunehmend zwischen die digitalen Fronten eines gigantischen Cyberkrieges, der sie in höchste Gefahren bringt.
Wie futuristisch ist diese Vorstellung?

Der gebürtige Österreicher Mark Elsberg ist im literarischen Feld schon lange kein Unbe­kannter mehr, nachdem ihm 2012 mit dem Technik-Thriller Blackout – Morgen ist es zu spät (Blanvalet) der große Durchbruch gelang. Seine Liebe zu hochaktuellen, technikaffinen The­men scheint ihm im Blut zu liegen und so überrascht es keineswegs, daß er auch mit seinem neuen Werk Zero. Sie wissen, was du tust (Blanvalet) den Finger auf Probleme unserer Ge­genwart legt. Thema: Internet, New Technology, Big Data und Überwachung. Und der mo­derne Mensch im Umgang mit seinen eigenen Kreationen.

»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Datenkraken zerschlagen werden müssen.« Das sind Zeros Worte am Ende jedes Videos, das sie onlinestellen, um auf Mißstände im digitalen Um­gang hinzuweisen. Und sie lassen nichts unversucht, um genau dieses Ziel zu erreichen. Ihnen gegenüber steht der riesige Datenkrake Freemee, der mit seinem Programm den Menschen eine Unterstützung in Lebensfragen sein will. Und nebenbei noch seine eigenen Experimente in Punkto Manipulation der Nutzer macht.
Das Besondere an diesem Buch ist seine hohe Aktualität. Für den Otto-Normal-Leser werden viele der benannten Techniken noch wie Zukunftsmusik klingen, dabei sind sie schon lange im Einsatz. Möglichkeiten zur monetären Verwertung der eigenen, gesammelten Daten gibt es schon zuhauf in digitalen Leben, Algorithmen zur Vorausbestimmung menschlichen Verhal­tens sind feste Bestandteile vieler Internetplattformen und der Cyberkrieg ist in vollem Gange.
Elsberg zeigt hier einmal mehr, daß er auf diesen hochaktuellen Gebieten bewandert ist und daß er ebenfalls in der Lage ist, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, um ein bloßes Schwarz-Weiß/Gut-Böse-Denken zu vermeiden. Denn man bekommt zwar deutlich die Gefahren der Nutzung der neuen Medien vorgeführt und wird auch zur sinnvollen und verantwortungsvollen Nutzung ermahnt, aber Vorteile werden nicht aus Ignoranz oder drama­turgischen Gründen unter den Tisch fallen gelassen. So will dieses Buch auch keine positivis­tische Utopie oder schwarzmalende Dystopie werden, sondern ein Abbild der Gegenwart mit einem Blick in die Zukunft geben. Und das gelingt auf ganzer Linie.
Die Geschichte hat Hand und Fuß und ist dramaturgisch klug aufgebaut. Die Verfolgungsse­quenzen sind spannend und zum echten Mitfiebern gemacht, die ruhigen Episoden sind durch­zogen von gehaltvollen Diskussionen und dem Abwägen der Vor- und Nachteile. Schön ge­zeichnete Figuren runden das Bild noch ab, auch wen die Konstellation »Mutter, die keine Ahnung von Technik hat« und »Tochter, die total technikaffin ist« etwas stereotyp daher­kommt. Jeder der Charaktere hat seine eigene Art und trägt auf ihre Weise zum Geschehen bei. Einzig die Liebesbeziehung von Cynthia zu dem ihr an die Seite gestellten Informatiker ist manchmal etwas zuviel des Guten und findet nicht immer einen sinnvollen Platz in der Geschichte.

Aber sonst war das eine Geschichte eine der besten in letzter Zeit: spannend, nachdenklich, aktuell und stellenweise auch brisante Themen aufgreifend. Dieses Buch kann dem Leser durchaus ein stückweit die Augen öffnen und ihn zu einem bewußteren Umgang mit den digitalen Medien bewegen. Denn sie sind in den falschen Händen durchaus eine Gefahr. Und in den richtigen ein Segen für die Menschheit. Es kommt nur darauf an, wer es nutzt.

Ich danke blanvalet für die Zusendung des Rezensionsexemplares und BloggDeinBuch für die Vermittlung.

 

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

»Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht« von Hilde Bruch

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Über 35 Jahre ist eines der Standardwerke zur Magersucht schon alt, die diese Krankheit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte; in den letzten Jahren erlebte es die nunmehr 19. Auflage. »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht« heißt es und stammt aus der Feder einer der damals führenden Psychologen und Anorexiesachverständigen.
Die Ärztin und Psychoanalytikerin Hilde Bruch wurde 1904 in Deutschland geboren, wanderte 1933 über Großbritannien nach Amerika aus und wurde dort eine angesehene Spezialistin für Eßstörungen. Bereits in den frühen 1970er Jahren verfaßte sie eines der wichtigen Bücher zum Thema der Eßstörungen mit dem Titel »Eating Disorders«.

Eine so große Unbekannte wie vielleicht noch in den 70er und 80er Jahren mag das Thema Magersucht jetzt nicht mehr sein, aber für Angehörige von erkrankten Personen kann es trotz allem ein großes Problem und eine enorme Belastung sein – und ein Rätsel noch dazu. Fragen nach den Ursachen, Auswirkungen und inneren Gedanken von Erkrankten können quälend sein. Diesem Rätsel versucht Bruch auf die Spur zu kommen und die Facetten des Phänomens »Magersucht«, das bis dato nur wenigen Ärzten wirklich bekannt war, zu beleuchten und darzulegen.
Dies versucht sie in verschiedenen Abschnitten, in denen sie neben den psychischen Folgen, die Hungern für den Körper haben können, auch die psychischen Folgen detailliert wiedergibt. Im letzten Abschnitt finden sich dann ihre Erläuterungen zu verschiedenen Therapieansätzen, die zu dieser Zeit populär waren.

Es ist ein Buch, das eingängig und simpel geschrieben ist, daß ohne großes psychologisches Vorwissen auskommt und eher dazu gedacht ist, die Allgemeinheit an dieses Thema heranzuführen. In zahlreichen Fallbeispielen und aus ihren Erfahrungen von insgesamt siebzig erkrankten Personen schildert Bruch, was eigentlich hinter der Anorexie steht. Sie untermauert ihre Aussagen mit zahlreichen Zitaten ihrer Patienten (zumeist Mädchen im spätpubertären Alter), die in den Sitzungen über sich, ihre familiären Beziehungen und ihre Krankheit sprachen. Gerade diese Nähe an den Betroffenen macht das Werk authentisch und begreiflich, denn die Schilderungen der Betroffenen bedienen sich oft einfachster Bilder und Worte.
Ein besonders wachsames Auge beweist Bruch bei den psychischen Problemen. Auch wenn sie viele Probleme im häuslichen Bereich sucht und oft zu enge und nie gelöste Bindungen an die Eltern als wahre Probleme ausmacht, fährt sie sich in dieser Schiene nicht fest und zeigt auch an anderen Beispielen, daß das nicht immer der Grund sein muß und daß die Anorexie viele Auslöser kennt (vergleichbar mit der Standardaussage heutzutage, daß viele Menschen wegen eines verzogenen Medienbildes anorektisch werden würden).

Eine weitere Stärke beweist sie auch in der Analyse der Einstellung anorektischer Personen, der sie ein ganzes Kapitel widmet. Bruch legt dar, welche gravierenden Fehler gerade im Umgang mit Magersüchtigen gemacht werden. Sie erkennt, daß Erkrankte oft im höchsten Maße manipulativ gegen sich und ihre Umwelt vorgehen und daß sie, bedingt durch die Erkrankung, eine radikale Wesensänderung durchmachen. Damit war sie vielen Therapeuten, die sich in dieser Zeit mit Eßstörungen befaßten, einen großen Schritt voraus.

Auf ihren Erfahrungen und Beobachtungen basierend, ist Bruch in der deutlich günstigen Situation, Behandlungsmethoden zu analysieren und zu kritisieren. So ist es vielleicht auch gerade ihr zu verdanken, daß man heutzutage eben nicht mehr versucht, Erkrankte mittels einer schlichten Verhaltensmodulation über Belohnung und Bestrafung zu »heilen« und schlicht denkt, daß die pure Gewichtszunahme die Lösung aller Probleme sei.

Leider vermischt sie noch vermehrt Anorexie und Bulimie und führt letztere nicht als gesondertes Bild einer Eßstörung auf, sondern als ein Nebenprodukt der Magersucht. Auch das was wir heutzutage unter dem Begriff »Binge Eating« kennen, wird nicht explizit als Krankheit aufgeführt, sondern zu einer Nebenwirkung erklärt, die es aber gilt, im Zuge der Therapie den Griff zu bekommen.
Ebenfalls als störend empfand ich oftmals den Terminus des »Krankheitsbefalls«. Gerade bei einer solchen psychischen Erkrankung wirkte das oft Fehl am Platze, wenn die Illusion aufgebaut wird, daß es ähnlich einer Infektionskrankheit wie einer Grippe wäre.
Als verwirrend empfand ich auch die Gewichtsangaben. Sprach man immer von Pfund, so war es aber nicht deutlich, ob bei der Übersetzung schlicht das amerikanische Pound zum deutschen Begriff des Pfundes wurde, oder ob man das Gewicht wirklich ins deutsche Pfund umrechnete. (Anm.: mir lag die Erstausgabe von 1978 vor, es ist aber durchaus möglich, daß dieser Umstand in neueren Auflagen behoben und die Angaben konkretisiert wurden)

Summa Summarum wird dieses Werk aber durchaus seinem Ruf als Standardwerk in diesem Bereich gerecht. Angehörige können sich hier einen ersten Eindruck darüber verschaffen, was Betroffene wirklich bewegt und erste Schritte unternehmen, hinter das Rätsel Magersucht zu steigen. Als Betroffene wird man hierin sich mehr als einmal wiedererkennen und Bruch schafft es auch, ihnen Mut und Unterstützung zu geben und so widmet sie ihr Buch denn auch all »[d]den mageren Mädchen, die mir geholfen haben, dieses Buch zu schreiben.«

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

»Viviane Élisabeth Fauville« von Julia Deck

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Sie sind zweiundvierzig Jahre alt. Ein gerade mal zwölf Monate altes Kind wiegen Sie in Ihren Armen, während Sie in ihrem Schaukelstuhl sitzend in Ihre leere Wohnung starren. Von Ihrem Mann erst kürzlich verlassen, spüren Sie, wie Ihr Leben langsam zerbricht. Aber Sie wissen noch etwas ganz anderes. Eine schreckliche Tatsache. Ihr Psychoanalytiker ist tot. Und Sie haben das Messer gehalten, daß durch seinen Bauch schnitt.

»Sie sind am 15. Oktober ausgezogen, haben eine Kinderfrau gefunden, Ihren Mutterschaftsurlaub aus gesundheitlichen Gründen verlängert, und am 16. November, also gestern, haben Sie ihren Psychoanalytiker umgebracht. Sie haben ihn nicht symbolisch umgebracht, wie man irgendwann den Vater umbringt. Sie haben ihn mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Modell Santoku, umgebracht.« (S.14)

Und nun irren Sie durch Paris, um mögliche Zeugen des Vorfalles zu finden und über ihre Beobachtungen auszufragen. Und die Polizei sitzt Ihnen im Nacken, da sie Sie für die Hauptverdächtige halten.

(wagenbach.de)

Viviane Élisabeth Fauville ist eine Frau mittleren Alters, die einen gutbezahlten Job hat und in einem der besten Arrondissements Paris’ lebt. Doch als ihre Beziehung in die Brüche geht, geht es auch mit ihrer seelischen Verfassung rapide bergab. Durch den Mord an dem Arzt und ihrer anschließenden Odyssee durch Paris wird das Spiel um ihrer Persönlichkeit immer verworrener und bald kann man gar nicht mehr wissen, was Realität und was Traum ist.

Dabei kommt das Erstlingswerk der französischen Autorin Julia Deck zuerst wie ein Kriminalroman daher, wie man ihn sehr oft liest. Doch zunehmend wird klar, daß hier viele sonst immer so klar festgesteckte Regeln eines hausüblichen Krimis auf den Kopf gestellt werden und man immer tiefer in einen Strudel gezogen wird, bei dem man nicht weiß, was an dem, was die Protagonistin zu berichten weiß, wirklich wahr ist. Sie verstrickt sich immer wieder in Widersprüche, scheint eine verzerrte Zeitwahrnehmung zu haben und scheint von psychischen Problemen getrieben.

Besonders charakteristisch und spannend sind die Perspektivwechsel. Dabei wird alles aus der Sicht der Protagonistin geschildert, aber sie wählt verschiedene Arten der Distanzierungen und Perspektivwechsel, um ihre Situation möglichst genau erläutern zu können. So findet sich der Leser im Wirbel um Ich-, Sie- und Es-Perspektiven wieder. Oder wie der Psychoanalytiker sagte: das Spiel mit dem Subjekt. Man merkt Vivianes verzweifelte Suche nach sich selbst und ihren Kampf, diese Situation zu meistern, zu schildern und sich davon zu distanzieren, an.

Die Geschichte ist intelligent konstruiert und bietet einen besonders interessanten Wendepunkt, auch wenn man ihn an manchen Stellen schon durchschimmern sieht. Einfach zu lesen ist das Werk aber keinesfalls. Deck schafft es, den seelischen Verfall der Protagonistin auf sprachlicher Ebene besonders eindrücklich darzustellen. Aber gerade das, gepaart mit einem hypotaktischen Satzbau, der manchmal fast gedankenstromartige Züge annimmt, kann den Leser oft verwirren und lange Zeit nicht wissen lassen, was nun eigentlich gerade passiert. Zahlreiche Ortwechsel, die auch die wirre Odyssee durch Paris mit sich bringen, bringen Spannung, wirken aber manchmal recht lose verknüpft. Die Sprache ist äußerst nüchtern und rigide, wodurch eine enorme, unüberbrückbare Distanz zum Geschehen geschaffen wird. Dem Leser wird es unmöglich gemacht, auch nur die kleinste emotionale Verbindung zu einer der Figuren aufzunehmen. Sämtliche Akteure bleiben Schemen und erscheinen eher wie leblose Marionetten denn wie fühlende Menschen. Diese emotionale Distanz findet sich auch in der losen Aneinanderreihung von verschiedenen, nicht miteinander in Verbindung stehenden Taten der Protagonistin, die damit nur ihren tristen Alltag unterstreichen will. Zeitliche, räumliche oder logisch verknüpfende Wahrnehmungen sind Viviane durch ihre seelische Erkrankungen schon bald nicht mehr möglich – und das spiegelt sich in der Art und Weise, wie sie davon berichtet, immer wider.

Bedauerlicherweise gibt es besonders im letzten Drittel der Erzählung einen recht tristen Durchhänger, bei dem man als Leser zunehmend ermüdet. Die Geschichte tritt auf der Stelle, Informationen, die gegeben werden, haben nur bedingt zur Folge, daß es vorangeht. An diesen Stellen schaltet der Leser, gerade durch den verworrenen Schreibstil, schnell ab.

Im Grunde ist es ein eigentümliches Werrk, eines, das man so nicht allzuhäufig in den Regalen findet. Es ist auch kein Wohlfühlbuch, sondern eines, das sich mit der schwierigen Thematik psychischer Erkrankungen und dem Umgang damit befaßt. Dabei ist Julia Deck hoch anzurechnen, mit welchen sprachlichen Finessen sie diese bebildert und dem Leser vor Augen führt, ohne daß er es gleich merkt. »Viviane Élisabeth Fauville« ist ein Versteckspiel zwischen Realität und Wahn, daß im Mäntelchen eines Kriminalromans daherkommt und den Leser immer wieder überrascht und verblüfft zurückläßt.

Bedauerlich sind da nur die zeitweiligen Längen und Durchhänger, die man bei einem Büchlein von gerade einmal 140 Seiten nun gerade nicht erwartet. Empfehlenswert ist das Buch trotz einiger Makel und besonders Leser, die auf der Suche nach Erzählungen sind, die in die Psyche der Protagonisten abtauchen, werden hieran ihre Freude haben.

Ich möchte an dieser Stelle der guten Kef danken, die die wunderbare Aktion der Literatour ins Leben rief, sodaß ich dieses Buch lesen und meine Gedanken dazu hier äußern konnte.

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

»Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland« von Thilo Sarrazin

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Das Enfant terrible Thilo Sarrazin, bekannt durch seinen 2010 erschienenen Aufreger »Deutschland schafft sich ab« (DVA), wartet auch dieses Jahr wieder mit einem Buch auf, in dem er wiederholt versucht, den Leser auf Mißstände in der Gesellschaft Deutschlands hinzuweisen. Dabei kommt »Der neue Tugendterror« (DVA) erst wie eine Verteidigungsschrift seines ersten Buches daher. Auf mehr als einhundert Seiten erläutert Sarrazin in allen Facetten, wieso in ihm der Wunsch kam, ein Buch über die neuen Varianten des Tugendwahns verfassen zu wollen. Dabei rückt er »Deutschland schafft sich ab« wiederholt ins Zentrum des Interesses und führt genußvoll Fehler der Journalisten und Kritiker vor, die nach Sarrazins Auffassung das Buch wohl nie gelesen hätten. Und wenn doch, dann hätten sie es nicht verstanden.

Man merkt ihm dabei sichtlich die Befriedigung an, es auf diese Weise den doch manchmal recht harsch und fast schon voreingenommenen vorgehenden Kritikern heimzahlen zu können. Doch auf den Leser wirkt es nach den ersten Seiten irgendwann so, als würde Sarrazin jetzt in seinem Neuwerk einfach eine geeignete Plattform suchen, um sein Werk, das doch recht durch die Medien geschleift wurde, jetzt doch noch verteidigen zu können und ihm Gehör zu verleihen. So manche Kritik sprach schon vom Buch eines gekränkten Mannes (ZEIT).

Zwischen den Zeilen erkennt man aber den roten Faden, der schlußendlich zum zentralen Thema des Sachbuches führt: der Terror falsch verstandener Tugend. Dabei bleibst Sarrazin aber wie gewöhnlich sehr sachlich und führt mittels eines geschichtlichen Abrisses über verschiedene Varianten der Unterdrückung freier Meinungsäußerung über das Postulat sittlicher Interessen ein, bis er zur Neuzeit und seinen Medien kommt. Gerade in der Macht der Medien sieht er den Schlüssel des neuen Tugendterrors. Tugend – an sich ein gutes Ding, aber wenn es zum Redeverbot für nicht konforme Aussagen wird, dann wird daraus die Terrorherrschaft der Tugend.

Im Mittelteil des Buches liegt, wenngleich das nicht der unbedingte Fokus Sarrazins Ausführungen ist, ein wirklich interessanter, lesenswerter Teil, in dem er soziopsychologische Experimente und Untersuchungen darstellt, um so eine Basis für seine weiteren Ausführungen zu schaffen, wie kollektive Meinungen gebildet, geformt und verändert werden können, sowie wie der unbedingte Glauben an die Gleichheit aller Dinge entstand und bis in unsere Zeit weiterentwickelt und verfeinert wurde.

An dieser Stelle möchte ich auch die Recherchearbeit ansprechen, die mich an diesem Buch zugegebenermaßen schon begeisterte, obwohl man es für ein Sachbuch eigentlich vorraussetzen sollte: Sarrazin machte sich einen umfassenden Blick (da frage ich mich doch, wer ihm bei dem Buch wirklich alles zur Seite stand) über die Forschungslage und Neuentdeckungen in der Forschung und belegt auch sämtliche Aussagen, die er trifft, mit den entsprechenden Belegen.

Im dritten Teil seines Buches kommt Sarrazin dann zu seinen sogenannten 14 Axiomen der neuen Tugend, worunter unter anderem Aussagen fallen wie »Die menschlichen Fähigkeiten hängen fast ausschließlich von Bildung und Erziehung ab « oder »Ungleichheit ist schlecht«. In diesen Axiomen und ihrer Widerlegung seitens Sarrazins weicht er stellenweise doch ganz enorm von einer sachlichen und nüchternen Schreibweise ab und gleitet desöfteren in die Satire oder gar Zynismus. Auch wenn er solches entschuldigend vorher andeutet, ein wenig fehl am Platze wirkt es deshalb trotzdem manchmal und etwas mehr Ernst hätte dem nicht schlecht getan. Witzig ist es trotzallem und man muß beim Lesen doch des öfteren herzhaft lachen. Trotzallem sollte man den Ernst der Sache dabei nicht vergessen.

Ein wenig mehr Biß hätte dem Ganzen dann aber doch noch gutgetan – aber dann wäre der Autor wohl wieder sehr ins Kreuzfeuer der Medien geraten, ist man doch mit Worten wie »Rassist« oder »Frauenfeind« ganz schnell bei der Hand. So bleibt es ein handzahmes Buch, das sich bis auf die Axiome der Polemik und des Sarkamus‘ fernhält und lieber wissenschafttliche und pseudowissenschftliche Beiträge sammelt, um aus ihnen ein Bild zu formen, daß dem Leser die Realität in Deutschland vor Augen führen soll.

Flüssig zu lesen ist es ob seiner 400 Seiten allemal, aber nicht immer leicht verdauliche Kost. Sarrazin setzt bestimmtes Wissen und einen Schatz an Grundbegriffen beim Leser voraus und wer das nicht hat, wird schnell bei Abhandlungen verschiedener Philosophien und politischer Lehren aussteigen wollen. Daß der Fußnotenapparat sich gesammelt im Anhang des Buches fand, war ein doch umständlich; am Fuße der jeweiligen Seite befindlich, hätte den Lesefluß dann doch weniger unterbrochen.

 

Recht hat Sarrazin trotzdem in vielem, was er sagt. Gleichheit ist nicht das, was uns die neue Tugend lehren will. Und ob es nun Professorin oder Professx heißt – angemessene Entlohnung hat die Frau Professx deshalb noch lange nicht. Auf einem Pulverfaß sitzt er aber auch immer noch mit Vorliebe, das merkt man ihm an und auch wenn die Diskussionen bei seinem Buch nicht derart hochkochten, wie noch 2010/11, so merkt man die Debatte um die Gleichheit aller immer überall – der universelle Konformismus – doch wieder hochwallen.

Ich danke dem DVA, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

 

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

„Himmelstal“ von Marie Hermanson

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

„Die Leute glauben, man kommt in die Hölle, wenn man jemanden tötet. Wenn die wüssten, dass man nach Himmelstal kommt.“

 

Himmelstal ist eine in den Schweizer Alpen gelegene Luxusklinik, in der offiziell Burn-Out-Patienten behandelt werden. Alles scheint hier perfekt zu sein, um sich zu entspannen; den Bewohnern mangelt es an nichts.
Auch Daniels Zwillingsbruder Max ist seit einiger Zeit in dieser Klinik. Während Daniel in Schweden seiner Arbeit nachgeht, erreicht ihn ein Brief seines Bruders, in dem er ihn bittet, ihn doch besuchen zu kommen. Nach anfänglichen Zögern sagt Daniel zu und begibt sich nach Himmelstal.

Auch wenn Daniel das angenehme Leben in Himmelstal gut gefällt, möchte er möglichst bald wieder abreisen, aber Max bittet ihn um einen Gefallen, da er an Geldnot leidet. Daniel soll ein paar Tage mit ihm den Platz in der Klinik tauschen, damit dieser als Daniel abreisen und Geld holen kann. Auch wenn Daniel sich dabei unwohl fühlt, stimmt er zu und lässt sich auf das Verwechslungsspiel ein – nicht wissend welche Konsequenzen auf ihn zukommen.

„Also, ein Mann war dazu verdammt, die Toten über den Fluss zu rudern. Hin und zurück, hin und zurück, in alle Ewigkeit. Er war es unglaublich leid, wusste aber nicht, wie er den Job loswerden konnte. Eines Tages wusste er es. […] Die Ruder einem anderen geben.“

So bekommt Daniel von seinem Zwillingsbruder die Ruder in die Hand gedrückt und nachdem dieser nicht wie abgemacht nach einigen Tagen wieder in Himmelstal erscheint, muss Daniel seinen Platz einnehmen und nach und nach entdecken, dass Himmelstal nicht nur schöne, angenehme Seiten hat. Die Ärzte scheinen verrückter als ihre Patienten, die Dorfbewohner sind zurückhaltend und wenig hilfsbereit und seine verzweifelten Ausbruchsversuche scheitern ein ums andere Mal, und er wird dabei schwer verletzt.
Und das Schlimmste: jeder hält ihn für Max und schenkt seinen Erklärungen keinen Glauben.
So wird Daniel ein Lämmchen in einer Horde ausgehungerter Wölfe.
Himmelstal (OT: Himmelsdalen) ist der vor kurzem erschienene Roman der schwedischen Autorin Marie Hermanson, die schon mit anderen Romanen wie Die Schmetterlingsfrau oder Das englische Puppenhaus auf sich aufmerksam gemacht hat. Ihre Erzählungen bewegen sich oft in der Grauzone zwischen Phantasie und Wirklichkeit.

So auch in diesem Buch. Als Leser ist man bis zum Schluss nie wirklich ganz sicher, ob Daniel sich nicht doch alles einbildet und es keinen Zwillingsbruder gibt. Als man aufgeklärt wird, dass Max ein Mythomane, also jemand, der zwanghaft lügen muss, ist, verdichtet sich ein solcher Verdacht.
Aber auch bei den Bewohnern Himmelstals verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse.
Passenderweise stellte Hermanson ein Zitat aus Brechts Der gute Mensch von Sezuan (ein Stück, dass auch in ihrer Erzählung eine Rolle spielt) voran:
„Bosheit ist bloß eine Art Ungeschicklichkeit“

Als Leser ist man in der gleichen Lage wie Daniel – man möchte sich von der Ungewissheit befreien, die auf ganz Himmelstal lastet, denn niemand redet so freimütig, überall lauern Gefahren auf den, der zuviel fragt, und die Ärzte, denen Daniel sich anvertrauen möchte und von denen er Hilfe erwartet, sind nicht willens, ihre Experimente an ihren Versuchsobjekten einzustellen.
Hier offenbart sich auch eine extreme Profilierungssucht der Wissenschaftler, dessen Konkurrenzkampf untereinander auf dem Rücken der „Bewohner“ Himmelstals ausgetragen wird, was zu internen Spannungen untereinander führt. Doch daraus resultierende Todesfälle und „Unglücke“ nimmt die Leitung billigend in Kauf, nur um das Experiment „Himmelstal“ nicht zu gefährden.
So muss Daniel erkennen, dass er niemanden hat, dem er vertrauen kann, denn selbst die nette Corinne, die in der Dorfschänke bedient und die Gäste unterhält, scheint hinter ihrer Fassade mehr zu verbergen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, wobei der Leser recht lange im Unklaren gelassen wird und Wahrheiten erst nach und nach ans Licht kommen, wobei der große Show-Down sich wirklich sehen lassen kann.
Dabei ist Hermansons Roman kein lautstarker Thriller, bei dem man sich direkt fürchtet. Er ist eher subtil und leise, dafür aber umso wirkungsvoller, da man hinter jeder Kreuzung eine Gefahr in Form eines irren Bewohners erwartet, der sich nun auf den wehrlosen Daniel stürzt.
Genau diese unterschwellige Spannung macht das Lesen zu einem Erlebnis, denn man fühlt sich von der ersten Seite an beklemmt und gefesselt. Dazu kommt auch, dass alles recht nüchtern und distanziert geschrieben ist, was das eisige, gefühlskalte Klima auf dem Gelände wunderbar widerspiegelt und den Leser sich furchtbare Bilder ausmalen lässt.

Einzig das Ende möchte so gar nicht zu der sonst elektrisierenden Atmosphäre passen, in die die Klinik und die Menschen getaucht werden. Auch wenn die Schlusskapitel vielleicht gut durchdacht sind, so hat es doch den etwas herben Anklang eines „Friede-Freude-Eierkuchen“-Endes, in dem Daniel gerettet ist und fröhlich und befreit mit Corinne das Klinikgelände verlassen kann. Das hatte leider viel der zuvor angebauten Spannung genommen und mich etwas enttäuscht zurückgelassen.
Sonst aber ist der Thriller wirklich ein exzellentes Werk. Flüssig lesbar mit vielen, im Text versteckten Andeutungen und Referenzen, dabei den Leser aber trotzallem immer wieder verwirren und im Dunkeln tappen lassen. Denn auch, wenn man ganz sicher weiß, dass in den Tiefen der Klinik und hinter den freundlich lächelnden oder manchmal auch gelangweilt dreinblickend Gesichtern der Ärzte und des Pflegepersonals das Grauen lauert, so hat man bis zum Ende nie wirkliche Gewissheit.

Auch wenn es wegen des etwas mageren Endes einen Stern Abzug gibt, gilt hier absolute Leseempfehlung!

 

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai