»Das Mörderarchiv« von Kristen Perrin

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Als der jungen Frances einst von einer Jahrmarktswahrsagerin vorhergesagt wurde, daß sie irgendwann umgebracht werden würde, begann sie, ein Verzeichnis anzulegen und Informationen über alle Personen zu sammeln, die je mit ihr Kontakt hatten, damit im Falle ihrer Ermordung eine Ermittlung stattfinden kann.
Und Frances hatte recht: sechzig Jahre nach der Weissagung wird sie ermordet in ihrer Villa aufgefunden. Ihre Großnichte Annie noch vorher als Erbin eingesetzt, findet jene sich plötzlich in der Rolle der Ermittlerin wieder, die den Mord um Tante Frances aufklären muß, da sonst das Erbe auf dem Spiel steht.

Tja, selbsterfüllende Prophezeiung, mag man meinen. Und daraus strickt Kirsten Perrin den so eben erschienenen Krimi »Das Mörderarchiv« (Rowohlt 2024). Für Liebhaber gemütlicher Krimis, einem großes Personen-Potpourri und ländlicher Kulissen. Perrin versucht, jedem Charakter Farbe zu geben und sie passend in die Geschichte einzufügen und ihnen sogar Charakterentwicklungen zuzusprechen. Für die Erzählung in der Jetzt-Zeit ist das gelungen, allerdings wirkten für mich die Figuren, die zu uns aus den Tagebucheinträgen der 60er sprachen, reichlich progressiv und flapsig – das Gefühl, daß ich da Menschen beim Handeln und Reden zuschaue, die über sechzig Jahre in der Vergangenheit liegen, kam da nicht auf.
Und mit dem Tagebuch komme ich noch auf ein weiteres Problem zu sprechen. Das im Titel angekündigte Mörderarchiv spielt keine Rolle. Im Grunde hätte die gute Frances sich die viele Mühe schenken können. Die Lösung findet Annie allein im Gespräch mit den Dorfbewohnern und durch das oben erwähnte Tagebuch der Tante. Das Archiv mit all‘ seiner versprochenen Informationslast ist nur dafür da, um hin und wieder von einigen Leuten verzweifelt aufzubrechen versucht zu werden.

Natürlich darf auch die Schwäche der Protagonistin für starke, schöne, maskuline Männer wieder nicht fehlen. Ob Streß, Gefahr oder einfach nur Zeitdruck – immer nimmt sich Annie doch noch die Zeit, trotz aller Widrigkeiten und wichtigerer Dinge, zuckende Muskeln oder ein Lächeln des charmanten Polizisten einfach zum Dahinschmelzen zu finden, sodaß sie sich gar nicht mehr recht konzentrieren kann.

Man kann gern miträtseln, sich von der Geschichte treiben lassen und von unsympathischen Verdächtigen zu netten Dorfbewohner mit seiner Vermutung wechseln – das ist unterhaltsam, bringt aber am Ende nichts. Vielleicht errät man zufälligerweise den Täter, aber die Geschichte selbst lotst den Leser nicht dahin und gibt auch keine dienlichen Hinweise. Trotz allem ist die Auflösung interessant und glaubhaft und am Ende freut man sich, daß aus fast allen Personen doch noch anständige, liebenswerte Charaktere geworden sind, die ihr Leben trotz Widrigkeiten meistern.

Kein Roman, der die Zeiten überdauern wird oder neue Grenzen auslotet, aber ein gemütlicher Krimi, der einem schöne Lesestunden beschert und gerade für Leser des Genres nicht uninteressant sein dürfte.

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

»Content« von Elias Hirschl

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

In einer nahen Gegenwart führt uns eine namenlose Content-Creatorin durch ihren Alltag als Angestellte der Content-Farm Smile Smile Inc. Sie erstellt ein unbedeutendes Listicle nach dem anderen, nebenan werden Kuchen unter der Hydraulikpresse zerquetscht, Nokia-Handys in der Mikrowelle zum Zerplatzen gebracht und lustige Memes gebastelt. Alles belanglos, alles sinnbefreit, alles routiniert. In der durch Bergbau zerstörten Stadt, die regelmäßig von Erdbeben durchgeschüttelt wird, eröffnet der Bürgermeister mit einer lächerlich großen Schere ein Start-Up nach dem nächsten. Menschen hangeln sich von einer abstrusen Unternehmensgründung zur nächsten, scheitern mit einem Lächeln immer grandioser und besser.

Der neue Roman »Content« von Elias Hirschl (Zsolnay 2024) spielt in einer untergehenden Welt und nimmt dabei unsere jetzige gehörig auf’s Korn. Herausgekommen ist eine knapp zweihundert Seiten starke Romansatire, die es gehörig in sich hat. Dabei ist dieser Roman ist mehr als nur eine satirische Abhandlung über die Generation ChatGPT und ihre Obsession mit sinnlosem, schnell erzeugtem Content. Es ist eine politische und prophetische Reflexion über unsere heutige Gesellschaft, die sich im Sog von Clickbait, oberflächlichem Unternehmertum und zunehmender Entmenschlichung verliert. Hirschl gelingt es, diese Themen auf eine unterhaltsame und zugleich tiefgründige und bittere Weise zu beleuchten, die den Leser zum Nachdenken anregt, während er gleichzeitig über die absurden Situationen schmunzelt, die er auf den Seiten des Romans erlebt.

Dieser Roman ist für Liebhaber von Geschichten wie »Qualityland« von Marc-Uwe Kling. Es ist ein zynischer Rückblick auf unsere Zeit, Hirschl denkt sie weiter in ihrer Konsequenz und verkehrt sie schlußendlich ins Absurde. Man lacht so lang darüber, bis einem das Lachen im Halse steckenbleibt. Dabei ist der Schreibstil unaufgeregt, lakonisch und unbeteiligt. Emotionen kommen zu keiner Zeit auf, egal ob die Erzählerin ihrer Wohnung beim Abbrennen zuschaut oder sieht, wie ihre Kollegin sich ihre Hand in der Hydraulikpresse zerquetscht. Sie kommentiert und beobachtet, zieht aber keinerlei Rückschlüsse. Das alles obliegt dem Leser.

»Karin schaut inzwischen nur noch selten auf ihr Handy. Angeblich beginnt Twitter demnächst damit, zusätzlich zu den acht Euro Grundgebühr eine Publikationsgebühr von zehn Cent pro Tweet zu verrechnen. Spätestens dann will sie die App löschen, sagt Karin. […]
Twitter verrechnet inzwischen fünfzehn Cent pro hundert Zeichen. Angeblich soll die App demnächst auch noch umbenannt werden, sagt Karin. Das wäre ja wirklich das Dümmste, was man als Unternehmen machen kann.«
(S. 164)

Eine Leseempfehlung von mir!

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

»Iron Widow – Rache im Herzen« von Xiran Jay Zhao

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

In einer apokalyptischen Zukunft müssen die Menschen gegen invasive, gigantische Wesen kämpfen, die ihre Welt bedrohen. Um gegen diese fremdartigen Geschöpfe zu bestehen, haben sich die Menschen selbst metallene, riesige Anzüge erschaffen, die jeweils von einem Mann und einer Frau gesteuert werden, wobei es dem Mann obliegt, auf das Qi – die Lebenskraft, mit der die Maschinen gesteuert werden können – seiner Partnerin zuzugreifen und sie damit im schlechtesten und häufigsten Falle zu töten. Doch da immer wieder Nachschub den hochdekorierten Piloten zur Seite gestellt wird, scheint das niemanden zu stören. Als auch die Schwester der jungen Wu Zetian einem dieser Piloten zum Opfer fällt, entschließt sie sich, auch der Armee beizutreten und Rache zu nehmen. Diese Rache bekommt sie, doch entwickelt sich alles anders, als Wu Zetian es sich hätte gedacht.

Mit dem Roman »Iron Widow – Rache im Herzen« der amerikanischen Autorin Xiran Jay Zhao wird eine interessante Melange aus Science-Fiction und Fantasy-Elementen zusammengemischt. Ich muß gestehen, daß ich mir erst unsicher war, was mich hier erwarten wird und einen Science-Fiction-Roman habe ich gar nicht vermutet, aber ich ging aus der Lektüre sehr positiv gestimmt raus und freue mich – bei mir immer ein gutes Indiz – auf den zweiten Band.

Die Protagonistin Wu Zetian ist eine durchaus inspirierende Heldin, die ein repressives System wirklich hinterfragt und sich schlußendlich auch dagegen auflehnt. Durch ihre Reise und ihren Umgang mit ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt wird die Bedeutung von Selbstbestimmung und Gleichberechtigung hervorgehoben. Zhao dekonstruiert auf interessante Weise traditionelle Geschlechterrollen und hierarchische Strukturen, indem sie zeigt, wie Wu Zetian diese Grenzen überwindet und alternative Lebens- und Beziehungsmuster im Roman implementiert. Eine gesunde Dreiecksbeziehung kann in diesem Roman durchaus funktionieren und wirkt nicht toxisch oder ist nur dem puren Selbstzweck im Roman verwendet. Wirklich erfrischend zu lesen.

Die Geschichte ist spannend und bis zum Ende voller unerwarteter Wendungen und mit einem Cliffhanger, der wirklich Lust auf die Fortsetzung macht. Die Mischung aus Action und Intrigen, gepaart mit einer starken Charakterentwicklung, sorgt dafür, daß man das Buch kaum aus der Hand legen möchte.
Wu Zetian ist hier auch mal eine wirklich starke Frauenheldin, die in meinen Augen dieses Attribut auch als solches zugeschrieben bekommen kann. Ihre Wut und ihr Zorn sind mehr als verständlich, wirken dabei aber nicht überzogen oder wankelmütig. Sie kämpft gegen die Unterdrückung der Frauen an (dabei wendet Zhao immer das Motiv der sogenannten Lotusfüße – das Abbinden und Brechen der Knochen junger Frauenfüße, um diese möglichst klein zu halten – an; ein starkes Sinnbild für das Kleinhalten der Frauen und das Unmöglichmachen, auf eigenen Beinen zu stehen), ohne dabei purem Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. In diesem Roman finden sich Grautöne, Frauen sind nicht per se die Guten, Männer nicht nur die Bösen. Wu Zetians Wut läßt nicht nach, nur weil ein gutaussehender Mann vor ihr steht, sie verliert ihr Ziel nicht aus den Augen und so entsteht ein glaubhafter Erzählfaden, in dem sich die Ereignisse aneinanderfügen.

Schwierigkeiten hatte ich allerdings mit dem Kampfsystem, daß eine Mischung aus futuristisch anmutenden Maschinen und der chinesischen Vorstellung aus den Qi-Kräften von Ying und Yang darstellte. Dabei haben Männer und Frauen diese dualistischen Kräfte und können sie je nach Elementausprägung zur Steuerung und Weiterentwicklung der Chrysalis einsetzen, die dadurch verschiedene Formen annehmen kann. Wie genau das funktionierte, wirkte beim Lesen aber mehr als einmal willkürlich und sehr fantasiereich, aber ohne eine halbwegs wissenschaftliche Basis, wie ich es in einem Science-Fiction-Roman erwarten möchte.

Und trotz allem möchte ich »Iron Widow« wirklich empfehlen. Ich habe diese Geschichte sehr genossen und war nicht nur von der Gestaltung Wu Zetians, sondern auch von ihren zwei männlichen Begleitern Li Shimin und Gao Yizhi sehr angetan. Dieser Roman ist nicht nur eine Geschichte über Stärke und Überwindung, sondern auch eine Ermutigung für Frauen, ihre eigene Macht zu erkennen. Es ist eine Lektüre, die eindrucksvoll zeigt, daß ebenso Frauenstimmen und -taten in einer dystopischen Welt von großer Bedeutung sind. Ich bin auf jeden neugierig, wie es mit Wu Zetian und ihrem Machtgewinn weitergeht.

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

»Die Bücherjägerin« von Elisabeth Beer

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Sarah ist eine junge Antiquitätensammlerin, Restauratorin und selbsternannte Bücherjägerin, die nach dem kürzlichen Tod ihrer geliebten Tante – ebenfalls Antiquitätenhändlerin – in deren Villa lebt und versucht, ihr Geschäft fortzuführen. Sarah ist noch voll in ihrer Trauer, als der junge, britische Bibliothekar Ben an ihre Tür klopft und sie bittet, mit ihm gemeinsam das verschollene erste Segment der Tabula Peutingeriana zu suchen, das Sarahs Tante Amalia ihm vor ihrem plötzlichen Tod zu beschaffen in Aussicht stellte.

Auf ihrer gemeinsamen Suche reisen sie nach Frankreich und England und entdecken, daß alte Karten Menschen durchaus zueinander führen können.

Gleich vorweg: wer bei diesem Roman »Die Bücherjägerin« von Elisabeth Beer vorrangig einen Liebesroman erwartet, der ist genau richtig und kann guten Gewissens zugreifen. Wer dagegen eine Erzählung über das Restaurieren, das Büchersammeln und das Dasein als Antiquarin/Antiquitätenhändlerin erwartet. der wird das Buch enttäuscht zur Seite legen.

So ist es jedenfalls mir passiert.

Dieses Buch ist emotional wahnsinnig aufgeladen: einmal durch den Tod von Sarahs Tante; dann durch Sarahs ewigem Kampf, mit anderen Menschen klarzukommen; und schlußendlich natürlich auch durch die Liebesbeziehung der beiden Protagonisten, die sich von Anfang bis Ende durch das Buch zieht.

Man könnte auch sagen, es menschelt hier doch ganz gewaltig, was zur Folge hat, daß in der Geschichte in einem fort gegrinst, Augenbrauen gehoben, getätschelt, gekichert und sowieso Mundwinkel in jede Richtung gebeugt und bewegt werden. Das ist ab und zu ganz schön, in der Häufigkeit, in der es in diesem Roman – auch in unpassenden Situationen – zum Einsatz kam, aber völlig überladen und nicht gerade abwechslungsreich. Auch die Figuren sind fast überwiegend unfaßbar positiv und haben keine wirklichen Makel an sich – sie sind gnadenlos liebenswert und sollen es auch sein. Selbst der Händler, mit dem sich Amalia und Sarah immer um die besten Stücke streiten und der durchaus fragliche Methoden zur Akquise anwendet, ist doch eigentlich ein ganz netter Kerl, der die beiden einfach immer wieder auf Trab hält.

Ich möchte nicht sagen, daß die Protagonisten platt sind; Beer versucht durchaus, ihren Figuren Tiefe zu geben, ihre Schwächen dem Leser deutlich zu machen und zu erklären, was sie zu den Menschen machte, die sie nun sind. All das macht sie plastisch und greifbar, aber man bekommt eben auch das Gefühl, daß die Autorin ob der Liebe zu ihren eigenen Figuren nicht möchte, daß diese sich auch mal ernstlich schlecht verhalten und wirkliche Fehler begehen. Hier treffen zwei nahezu perfekte Charaktere, gebeutelt von der Umwelt, die sie nicht versteht und diskriminiert, aufeinander und entdecken, daß sie zusammengehören, weil sie einander annehmen können, wie sie sind.

Da ging die Geschichte um die Suche nach dem fehlenden Kartenfragment völlig unter. Sie hätten auch nach einer einst verlorenen Handtasche suchen können.

Da hilft es auch nicht, daß bestimmte dramatische Fakten immer und immer wieder erwähnt werden. Ich weiß, damit soll deutlich gemacht werden, daß die Hauptfigur mit diesen Dingen wie dem Tod der Tante nicht abgeschlossen hat, aber es wirkte immer wieder plump und repetitiv in den Text eingestreut.

»Ben hatte Amalia in zahlreichen E-Mails, Briefen und Sprachnachrichten darum gebeten, ihre Quellen zu offenbaren, aber erst hatte sie nicht geantwortet – Berufsgeheimnis, versteht sich -, dann hatte sie nicht mehr antworten können. […] Ja, sie hatte nicht mehr antworten können, weil sie gestorben war, aber das war nicht Bens Schuld.«

(S. 308)

Desweiteren fanden sich diverse inhaltliche Fehler im Text, die mir doch den Lesegenuß etwas madig machten – es mag daran liegen, daß meine Erwartung an den Roman sowieso schon untergraben wurde.

Zwei Beispiele sollen dafür herhalten.

Als sich Sarah und Ben abends allein im verregneten Wald aufhielten, da ihr Auto eine Panne hatte, äußerte Ben die Angst, daß ihnen etwas zustoßen könnte, da »Bambi […] auch im Wald gestorben« (S. 253) sei. Darauf weiß Sarah, die ihr Leben lang Fernsehen als unwichtig ansieht und nur in der Welt der Literatur lebt, lediglich zu sagen, daß das doch nur eine erdachte Disneyfigur sei. Da hätte ich da doch eher einen Verweis auf den literarischen Vater Felix Salten erwartet denn auf die Zeichentrickadaption.

Ein weiterer Fehler ist faktischer Natur. Als sie entdecken, daß mit dem gesuchten Kartenfragment nicht alles mit rechten Dingen zugeht und Amalia und ihr Freund diese auf Pergament der Zeit fälschten, sagt deren Besitzerin folgendes:

»Natürlich würde ein Vergleich der Papierfasern mit denen der Originalkarte einer Überprüfung nicht standhalten.«

(S. 366)

Nun kann man ob des Nachwortes, in dem die Autorin sich für eventuelle Fehler aufgrund Nichtwissens oder unzureichender Recherche entschuldigt, milde gestimmt sein, aber mir waren solcherlei Unkorrektheiten ein Dorn im Auge.

Der Roman ist aber trotz allem nicht schlecht und kann einem ein paar vergnügte Lesestunden bereiten. Beer schreibt anschaulich und flüssig und man merkt ihr ihre Liebe zur Story und ihren Charakteren an. Sie läßt immer wieder aktuelle Themen wie Feminismus, Rassismus und verschiedene Beziehungsmodelle in den Text einfließen, ohne es dem Leser auf’s Auge zu drücken und auch der gegenderte Text läßt sich einfach lesen.

Und so bleibt es eine nett zu lesende Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer Suche nach einem Kartenfragment.

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai

Addendum: Ich beziehe mich in dieser Rezension auf ein vom Verlag vorab veröffentlichtes Leseexemplar. Eventuell wurden in dieser Rezension erwähnte Punkte in der finalen Version verändert.

»Die Harpyie« von Megan Hunter

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Eine fesselnde Neuerzählung der weiblichen Rolle in der Gesellschaft: »Die Harpyie« von Megan Hunter

In ihrem Roman »Die Harpyie« liefert Megan Hunter eine beeindruckende Reflexion über die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft. Erschienen bei C. H. Beck im Jahr 2021, ist dieses Buch definitiv eine Lektüre wert. Hunter wirft einen kritischen Blick auf die traditionellen Erwartungen an Frauen und durchbricht dabei mutig und einfallsreich die Konventionen und spielt mit den Erwartungen.

Das Buch taucht in die Welt von Lucy ein, einer Frau, die mit den Herausforderungen einer modernen Ehe und Mutterschaft konfrontiert ist. Als sie von ihrem Mann mit einer deutlich älteren Frau betrogen wird, schließen beide den verhängnisvollen Deal ab, daß Lucy ihn dreimal bestrafen darf. Wann, wie und in welcher Intensität, bleibt ihr dabei überlassen. Doch was dieses Werk neben dieser spannenden Grundidee besonders bemerkenswert macht, ist die Art und Weise, wie es die klassische Rolle der Frau als bloße Hausfrau, Ehefrau und Mutter, hinter der die Frau mit ihren Problemen und Gefühlen in den Hintergrund tritt, in Frage stellt.

Jake war untreu gewesen, was aber, wie ich feststellte, irgendwie ein schlechtes Licht auf mich warf. Bloß eine Ehefrau, nicht mehr. Nichts erreicht, keine Publikationen vorzuzeigen. Dafür lohnt sich Treue nicht.

(S. 114)

Megan Hunter befreit ihre Frauenfigur von den engen Grenzen, die oft um die Vorstellung der ewig liebenden, zärtlichen und verzeihenden Frau gezogen werden. Lucy darf Emotionen wie Hass, Zorn, Wut und sogar Gewaltfantasien empfinden, ohne als „frauenuntypisch“ gebrandmarkt zu werden. Ihre Geschichte und die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt sieht, machen diese Emotionen nötig. Doch sie werden einer Frau noch immer nicht im Umfange zugestanden. Eine wütende Frau wird bei weitem nicht so wichtig genommen wie ein wütender Mann. Lucy ist von Kindheit an von den Harpyien fasziniert, die ihren Emotionen Ausdruck verleihen und angetanes Unrecht rächen, doch ihr wird verboten, sich mit ihnen zu identifizieren, denn sie sind keine gute Frauen und schon gar keine Vorbilder.

»Die Harpyie« ist wahrlich kein einfaches Buch und trotz des geringen Umfangs ein stellenweise sperriges, unbequemes Buch. Wir tauchen ein in die teilweise recht verworrene und sprunghaft erzählte Gedankenwelt Lucys, die immer mehr der Vorstellung verfällt, selbst eine Harpyie im wahrsten Sinne des Wortes zu werden. Gerade in den letzten Seiten wird der Leser gänzlich im Unklaren gelassen, was jetzt eigentlich wirklich passiert und was Lucy sich nur vorstellt. Diese Erzählweise ist eindringlich und faszinierend, macht es dem Leser aber nicht angenehm, dem allen zu folgen. Der Roman zwingt den Leser dazu, über die gesellschaftlichen Normen nachzudenken und die verschiedenen Facetten der weiblichen Identität zu erkunden und es ist ein Roman mit Nachwirkung.

Ich registriere schon lange nicht mehr, dass wir von uns meist in der ersten Person Plural sprachen, als bestünden wir – zwei Frauen in einer zugigen Nebenstraße – aus mehreren Personen, als seien wir um Ehemänner und Kinder erweiterte Wesen.

S. 101

Dieser Roman ein bemerkenswertes Werk, das eine dringend benötigte Perspektive auf die Rolle und die Gefühlswelt der Frau in der Gesellschaft bietet. Megan Hunter gelingt es, mit subtiler Kraft die Vorstellungen von Weiblichkeit zu hinterfragen und zu erweitern. Wer nach einer anspruchsvollen und erfrischenden Lektüre sucht, die auch mal umbequemere Themen aufgreift, wird in diesem Roman definitiv fündig.

Live Love. Be. Belive.

Eure Shaakai

»Das Mädchen, das in den Wellen verschwand« von Axie Oh

Die Welt der Bücher.

Als vor hundert Jahren begann, Stürme das Meer vor ihrem Dorf aufwühlen und jedes Jahr mehrere Menschenleben bedroht, wurde immer wieder eine junge Frau als Opfer ausgewählt, um als Braut des Meeresgottes dem zornigen Meer geopfert zu werden und die Wellen zu besänftigen. In diesem Jahr wurde die große Liebe von Minas Bruder ausgewählt, der es nicht dulden kann, daß sie für diesen Wahn sterben soll, weswegen sich Mina selbst in letzter Sekunde in die Fluten stürzt, um die Braut des Meeresgottes zu werden.
Doch der Meeresgott scheint seit Jahren zu schlafen. Ein Fluch liegt auf ihm und zusammen mit den Geistern und Göttern versucht Mina, diesem Geheimnis auf die Schliche zu kommen und den Meeresgott endlich wieder zu besänftigen.

Mit ihrem Roman »Das Mädchen, das in den Wellen verschwand« hat sich die amerikanische Schriftstellerin Axie Oh an einer Neuinterpretation der koreanischen Erzählung rund um Shim Cheong, die sich selbst für ihren blinden Vater opfert, versucht und das Ganze in einen Fantasyroman für jugendliche Leser verwandelt.

In diesem Roman findet sich eine faszinierende Mischung aus mythologischen Elementen und Abenteuer. Die Geschichte dreht sich um eine Welt, die von tödlichen Stürmen heimgesucht wird, und das jährliche Ritual, bei dem ein Mädchen in die Fluten geworfen wird, um die Gunst des Meeresgottes zu erlangen. Das Mädchen, das sich freiwillig opfert, um ihren Bruder zu retten, wird in eine Welt der Geister entführt, in der sie einen Fluch auf dem Meeresgott entdeckt. Von nun an hat sie nur noch dreißig Tage Zeit, um den Fluch zu brechen und die Stürme für immer zu beenden.

Leider sind die Charaktere in dieser Geschichte eher blass und schwer greifbar. Insbesondere die Hauptfigur, Mina, gerät oft in die Rolle der „damsell in distress“. Obwohl sie mutig ist, handelt sie oft unüberlegt und muss dann von den männlichen, toll aussehenden Charakteren gerettet werden. Diese Dynamik trägt nicht dazu bei, Minas Stärke und Unabhängigkeit zu betonen.

Die romantischen Elemente sind in diesem Buch eher zurückhaltend und entwickeln sich erst in den letzten 50 Seiten zu einem überwältigenden Höhepunkt. Dies mag für manche Leserinnen und Leser angenehm sein, die sich weniger für Liebesgeschichten interessieren, aber für diejenigen, die gerne tiefer in romantische Beziehungen eintauchen, könnte dies enttäuschend sein.

Die Handlung des Buches weist typische Storyelemente auf, wie korrupte Götter, die den Glauben an die Menschen verloren haben, und ein unschuldiges, unverdorbenes Mädchen vom Lande, das sich selbstlos, liebevoll, mutig und beherzt dem entgegenstellt. Sie erobert die Herzen aller um sich herum und überzeugt letztendlich die Götter davon, den Menschen wieder wohlgesonnen zu sein. Obwohl solche Elemente in der Fantasy-Literatur oft beliebt sind, verleihen sie der Geschichte leider keine besondere Originalität oder Tiefe.

Insgesamt bietet „Das Mädchen, das in den Wellen verschwand“ eine interessante Mischung aus Mythologie und Abenteuer. Allerdings könnten die blassen Charaktere, die stereotype Liebesgeschichte und die vorhersehbaren Storyelemente die Leseerfahrung für manche Leserinnen und Leser etwas trüben.

»Die Terranauten« von T. C. Boyle

Buchbesprechung., Die Welt der Bücher.

Mitte der Neunziger macht es sich ein Forschungsteam zur Aufgabe, die Möglichkeiten einer Marsbesiedlung durch Menschen zu untersuchen. Dazu wird in Texas auf rund 1,3 Hektar eine riesige Glaskuppel mit mehreren Etagen errichtet, angesiedelt darin allerlei Flora und Fauna, sodaß darin verschiedene Biome der Erde simuliert werden können. Und mitten darin: acht Menschen – vier Frauen und vier Männer – die darin zwei Jahre überleben sollen, in dem sie die Vegetation und die Tiere versorgen. Autark. Nichts soll reinkommen und nichts raus. Nachdem die erste Gruppe vor ihnen aufgrund eines Unfalls – einer medizinischen Notwendigkeit – versagt hatte, die zwei Jahre ohne Hilfe von Außen zu überleben, wollen es die Crewmitglieder der zweiten Gruppe besser machen. Doch kaum ist noch nicht mal die Hälfte der Zeit um, wird eines der weiblichen Crewmitglieder schwanger und das stellt die ohnehin schon fragilen zwischenmenschlichen Beziehungen der acht Terranauten auf eine weitere Probe.

Daß einem die christliche Symbolik in dieser Thematik nahezu ins Gesicht springt, ist von T. C. Boyle nicht nur gewünscht, es ist einfach unübersehbar. Nicht nur wird das Projekt Ecosphere 2 konsequent als E2 abgekürzt, um den gedanklichen Sprung zum Garten Eden zu erleichtern; das im Glashaus geborene Kind wird Eve genannt (einen Jungen hätte man selbstverständlich Adam getauft); und auch die Dreieinigkeit der Projektleiter sind mit ihrem Vorsitzenden Jeremiah Reed – konsequent als Gottvater von allen bezeichnet – klar in ihrer Metaphorik. Und dabei ist das im Roman gar nicht mal so positiv bewertet; es wird im Gegenteil mehr als einmal herausgestrichen, wie stark einer Sekte ähnlich all das ganze ist. Es geht um bedingungslose Loyalitäten, um Schwüre und deren Einhaltung, um Aufopferung für eine höhere Sache und auch um die Verleugnung der augenscheinlichen Wahrheit zum Zwecke des Ziels.

Mehr als nur einmal kann man über allen Protagonisten den Kopf schütteln. Und doch sind sie glaubhaft und greifbar gestaltet, man kann mitfühlen und Aktionen auch verstehen, ihre Dilemmas sind nachvollziehbar. Und doch sind sie keineswegs Sympathieträger. Sie sind oftmals egoistisch, egozentrisch, starrsinnig und auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Rücksichtnahme erfolgt nur, weil es von der Führung so vorgesehen ist oder weil es der Weg ist, damit das Experiment Erfolg haben kann – aber nicht aus einem eigenen Antrieb. Und das wird mit der Zeit unter der Glaskuppel, als rein kulturelle und gesellschaftliche Aspekte immer belangloser zu werden scheinen und nur noch in Form von traditionellen Festen aufrecht erhalten werden können und urtypische Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung einen immer höheren Stellenwert einnehmen, auch immer deutlicher. Es bilden sich Lager unter den Crewmitgliedern heraus, Meinungen und Ansichten prallen aufeinander und sorgen für immer größere Spannungen und Eifersüchteleien sind nahezu an der Tagesordnung und können nur noch mit Müh‘ und Not von der Kapitänin und dem Arzt, denen man bis zum Schluß wohl noch das kultivierteste Wesen attestieren kann, in Zaum gehalten werden.

Als Leser betrachten wir die Szenerie aus den Augen dreier Missionsmitglieder: Dawn Chapman und Ramsay Roothoorp (beide im zweiten Einschluß in E2 und werden im Laufe der Zeit das Kind Eve zeugen), sowie Linda Ryu, die sich zusammen mit Dawn Chapman um einen Platz in E2 bewarb, die aber ein ums andere Mal nicht genommen wird und von Neid auf die Crewmitglieder und ganz besonders zu Dawn geplagt auf ihre Chance (und damit ihre Rache) sinnt. Diese drei schildern die Geschehnisse vor, während und nach des Einschlusses aus ihrer Sicht, was natürlich auch zu widersprüchlichen Kollisionen in den Aussagen führt, die zur Konsequenz haben, daß man sich nie sicher sein kann, was nun wirklich vorgefallen ist. Zum Teil sind diese Widersprüche belustigend und witzig, zum anderen bitter und unterstreichen nur noch mehr den desolaten Charakter der Protagonisten.
Allerdings scheinen nicht nur die drei Erzähler, sondern auch der Autor selbst recht schnell einen der acht Insassen zu vergessen – dieser wird nur ein paar Mal am Anfang erwähnt und spielt nachher, weder für die Welt außerhalb noch innerhalb E2, keine Rolle mehr, was mich, angesichts der postulierten Wichtigkeit eines jeden Crewmitglieds der Mission doch sehr verwunderte.

Man darf sich als (potentieller) Leser dieses Romans nicht irreleiten lassen. Dieser Roman ist keine wissenschaftliche Schilderung eines Experiments. Es ist der Bericht eines Sozialexperiments aus der Sicht der Labormäuse, die nicht erkennen wollen, das mit ihnen gespielt wird. Man schickt vier Frauen und Männer mit diversen mentalen Komplexen zwei Jahre abgeschottet von der Welt in ein abgeschlossenes Gewächshaus, läßt sie von bestellter Presse wie Zootiere begaffen und setzt sie mittels Kameras und firmeninterner Spione, die ihnen Freundschaft vorgaukeln, weiter unter Druck. Was wird passieren?
Daß allein Dawns Schwangerschaft durchaus geplant war, läßt der Leiter des Experiments mehr als deutlich durchblicken – und das eben diese Schwangerschaft für Probleme sorgen sollte (denn sie wird nicht nur die Zwistigkeiten zwischen den einzelnen Teilnehmern verschärfen, sondern auch die ohnehin schon knappen Nahrungsmittel zugunsten der Schwangeren noch weiter verknappen und Dawns dringend benötigte Arbeitsleistung mindern). All‘ das sollte nur der Publicity dienen und sollte weiter Geld in die Taschen derjenigen spülen, die sich daran eine goldene Nase verdienten. Und das waren weder die Terranauten noch die Anwärter auf eben diesen Platz.

Als die Terranauten nach zwei Jahren endlich die Luftschleuse in die Welt durchschreiten können, um sich mit der nachfolgenden Crew für den dritten Einschluß abzulösen, wird das Experiment überschwänglich als gelungen erklärt. Dabei ist es das ganz und gar nicht. Weder konnte man beweisen, daß eine Kolonisation des Mars‘ dadurch möglich ist (man denke nur an Dawns Schwangerschaft, die die anderen sieben Mitglieder fast zum Verhungern brachte), zum anderen waren die dunklen Monate ein gigantisches Problem für die Terranauten wegen fehlender Sonneneinstrahlung, die das Pflanzenwachstum, damit das Sauerstoffniveau und somit das Wohlbefinden der Terranauten massiv beeinflußte (und die Sonneneinstrahlung ist auf dem Mars ja nochmal geringer als auf der Erde, wo das Experiment stattfand). Das führte schlußendlich dazu, daß die Crew nicht nur sämtliche Schweine und Barsche aß und damit keine Zucht mehr betreiben konnte, auch fing sie an, das Saatgut, das eigentlich für die dritte Aussaat gedacht war, zu essen, sodaß ein nahtloser Übergang mit der dritten Crew ohne ein erneutes Ressourcenauffüllen von Draußen überhaupt nicht möglich war. Es wäre im Laufe der zwei Jahre mehr als einmal fast zum Abbruch der Mission gekommen, weil Umstände von Außen und Innen immer wieder zeigten, wie fragil dieses System eigentlich ist und wie abhängig alles von der Welt da draußen – und dem Zusammenspiel mit ihr – ist.

Dabei schöpft T. C. Boyle leider meiner Meinung nach das Potential des gigantischen Geländes von E2 nicht wirklich aus. Nur zu Beginn läßt er seine Figuren dem Leser einen biologischen Einblick in dieses Gelände geben, danach erfahren wir fast nichts mehr über die einzelnen Biome. Es scheint, als würden sich alle immer nur in der Basis, auf den Feldern und den Ställen und am Ozean (eher ein großes Bassin) aufhalten. Auch der Flora und Fauna wird wenig Beachtung geschenkt und so bleibt das eigentliche Wesen von E2 (für das es eine reale Vorlage gab) nicht greifbar. Es ist und bleibt ein großes, gläsernes Gefängnis, das als Ausstellungskäfig für die acht Menschen darin dient.
Auch die sexuelle Komponente artete stellenweise etwas aus – wenngleich sie für die Erzählung wichtig ist; doch ich kann verstehen, das man als Leser irgendwann nur noch mit den Augen rollte, wenn mal wieder auf’s Tableau kam, wer was mit wem wann hatte.

Und trotzdem ist »Die Terranauten« (Carl Hanser 2017) lesenswert, wenn man sich auf ebendieses Gedankenexperiment einläßt. Es wirft zahlreiche ethische Fragestellungen auf, ist als Kritik auf gewissenlose Wissenschaft zu lesen und als menschliche Studie zu betrachten.

Und schließlich wird klar, was uns hier gezeigt wird: letztendlich steht sich der Mensch immer selbst im Weg, auch wenn er mit den besten Absichten die Zukunft gestalten will.

Live. Love. Be. Believe.

Eure Shaakai